Die Gastgeber-Nation im unerwarteten Hoch
Jubelstürme hatten sie in Moskau eigentlich nicht im Zusammenhang mit Russlands Fussballern erwartet. In der Nacht auf Mittwoch waren auf den Strassen der russischen Metropole tausende Fans unterwegs, um ihre Freude über die Auftritte ihres Nationalteams zum Ausdruck zu bringen. Es gab Autokorsos, überall wurden Fahnen geschwenkt und russische Volkslieder angestimmt. Selbst die ansonsten so gestrengen Polizisten liessen die euphorisierten Massen gewähren.
Ein einziger Satz in der Ausgabe der Zeitung "Sport-Express" vom Mittwoch brachte die Stimmung im Land auf den Punkt: "Wer, sagen Sie mir, WER hätte einen Tag vor Beginn der WM an eine solche Entwicklung geglaubt?", fragte sie, und fuhr weiter: "Wir geben den Russen den Glauben an den Fussball zurück. Dabei herrschte im Land bis vor kurzem noch Fussball-Atheismus."
Welche Erwartungen die Fans an die eigene Mannschaft hatten, zeigte vor Turnierbeginn ein Blick in soziale Netzwerke oder in die nicht von der Regierung gesteuerten Medien. Dort kursierten abschätzige Videoclips und Karikaturen von russischen Spielern, in denen diese als alt, narzisstisch und verletzungsanfällig dargestellt wurden. Eine beliebte Zielscheibe nach nicht zufriedenstellenden Resultaten in der zweijährigen Vorbereitung ohne Ernstkampf war auch Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow - respektive dessen buschiger Schnauz.
Die Gesichtsbehaarung des einstigen Bundesliga-Goalies wurde zum geflügelten Begriff, Tschertschessow gewissermassen vom Schnauz- zum Hoffnungsträger. Denn der TV-Moderator und Komödiant Ivan Urgant hatte dazu aufgerufen, sich mit einem echten oder falschen "Schnurrbart der Hoffnung" zu fotografieren und die Solidaritätsbekundung mit der "Sbornaja" im weltweiten Netz zu teilen. Den Steilpass nahm Tschertschessow an der Pressekonferenz vor der Eröffnungspartie gerne auf. Er spielte das Spiel mit, wie er davor die Kritiken scheinbar locker über sich hatte ergehen lassen, und forderte alle mit Schnauzer auf, das Stadion zu besuchen.
Es mag mit der überschaubaren Stärke der bisherigen Gruppengegner zu tun haben, dass sich Russland in den beiden Partien gegen Saudi-Arabien und Ägypten in einen regelrechten Rausch gespielt hat. Fakt ist aber, dass es Tschertschessow offenbar geschafft hat, den am schwächsten aller 32 WM-Teilnehmer klassierten Gastgeber (Nummer 70 der Weltrangliste) perfekt auf die Endrunde vorzubereiten. "Wir reissen die Rivalen in Stücke, schiessen unwahrscheinlich viele Tore, fliegen über das Spielfeld, begeistern die ganze Welt", schwärmte der "Sport-Express". Wer nach zwei Auftritten der Russen auf sechs Punkte und 8:1 Tore und dazu ungemein hohe Sympathiewerte für den davor verspotteten Trainer gewettet hätte, wäre vermutlich reich.
Wer also soll den Höhenflug der Russen stoppen? Der nächste Kandidat dafür ist am kommenden Montag Uruguay. Bis dahin bleibt Tschertschessow und seinem Team viel Zeit, um sich Gedanken darüber zu machen. Schliesslich sollen, wie es der Trainer sagte, noch "viele schöne Tage kommen". Es war die Antwort auf die Frage eines Journalisten, ob das 3:1 gegen Ägypten der glücklichste Tag seines Lebens gewesen sei. (sda)
Zu diesem Thema wurden noch keine Kommentare geschrieben
Kleines Vademecum für Kommentarschreiber
Wie ein Kommentar veröffentlicht wird – und warum nicht.
Wir halten dafür: Wer sich an den gedeckten Tisch setzt, hat sich zu benehmen. Selbstverständlich darf an der gebotenen Kost gemäkelt und rumgestochert werden. Aber keinesfalls gerülpst oder gefurzt.
Der Gastgeber bestimmt, was für ihn die Anstandsregeln sind, und ab wo sie überschritten werden. Das hat überhaupt nichts mit Zensur zu tun; jedem Kommentarschreiber ist es freigestellt, seine Meinung auf seinem eigenen Blog zu veröffentlichen.
Jeder Artikel, der auf vaterland.li erscheint, ist namentlich gezeichnet. Deshalb werden wir zukünftig die Verwendung von Pseudonymen – ausser, es liegen triftige Gründe vor – nicht mehr dulden.
Kommentare, die sich nicht an diese Regeln halten, werden gelöscht. Darüber wird keine Korrespondenz geführt. Wiederholungstäter werden auf die Blacklist gesetzt; weitere Kommentare von ihnen wandern direkt in den Papierkorb.
Es ist vor allem im Internet so, dass zu grosse Freiheit und der Schutz durch Anonymität leider nicht allen guttut. Deshalb müssen Massnahmen ergriffen werden, um diejenigen zu schützen, die an einem Austausch von Argumenten oder Meinungen ernsthaft interessiert sind.
Bei der Veröffentlichung hilft ungemein, wenn sich der Kommentar auf den Inhalt des Artikels bezieht, im besten Fall sogar Argumente anführt. Unqualifizierte und allgemeine Pöbeleien werden nicht geduldet. Infights zwischen Kommentarschreibern nur sehr begrenzt.
Damit verhindern wir, dass sich seriöse Kommentatoren abwenden, weil sie nicht im Umfeld einer lautstarken Stammtischrauferei auftauchen möchten.
Wir teilen manchmal hart aus, wir stecken auch problemlos ein. Aber unser Austeilen ist immer argumentativ abgestützt. Das ist auch bei Repliken zu beachten.
Wenn Sie dieses Vademecum nicht beachten, ist das die letzte Warnung. Sollte auch Ihr nächster Kommentar nicht diesen Regeln entsprechen, kommen Sie auf die Blacklist.
Redaktion Vaterland.li
Diese Regeln haben wir mit freundlicher Genehmigung von www.zackbum.ch übernommen.